Die Mär von den Ratten der Lüfte

Nimm doch einen Stock und stoß das Nest runter! Oder wirf etwas nach dem Vieh und vertreib es! Du wirst es doch nicht etwa brüten lassen?! Das sind doch dumme und gefährliche Wesen. Sie übertragen Krankheiten, deshalb nennt man sie ja auch Ratten der Lüfte. Sie kacken überall hin und ihr Kot macht alles kaputt.
Das und noch viel mehr musste ich mir anhören, als ich in meinem Umfeld davon berichtete, eine Ringeltaube habe in der Birke vorm Schlafzimmerfenster ein Nest gebaut. Doch ich hütete mich davor, den Ratschlägen zu folgen, sondern beobachtete einfach mal, was geschah…

Am Ende brach nicht die Pest aus, das Mauerwerk des Hauses zerbröselte ebenso wenig und ich schüttelte mich auch nicht bei jedem Blick aus dem Schlafzimmerfenster voller Ekel. Vielmehr erlebte ich etwas ganz anderes: Und das war nichts Geringeres, als das Wunder des Lebens…

Heutzutage hat die Taube in unseren Breiten einen ganz schlechten Ruf. Man verjagt sie, scheucht sie auf. Es ist mancherorts eine Art Sport für Kinder, Tauben auf öffentlichen Plätzen anzufeinden, nach ihnen zu treten, ihnen hinterher zu rennen oder sie zu verjagen. Hunde werden auf die Tiere losgelassen. Und nicht selten streut man auch Gift.

Man behandelt sie, als wäre sie eine totbringende Seuche, die unsere Städte überfallsartig überschwemmt und sämtliche alte Gemäuer zerstört. Brieftauben, Friedenstauben und Turteltauben haben ausgedient…
Und sicher trägt die Taube ihren Anteil an der Beschädigung von Bausubstanz. Sicher sind die Tiere auch nicht bakterienfrei.
Doch der Mensch dürfte mit seinen Autoabgasen und anderen Giften sowohl für die alten Gemäuer als auch für seine körperliche Gesundheit schädlicher sein, als es eine Taube je sein könnte…

Seltene Einblicke

So beobachtete also diese Taube mal vollkommen unvoreingenommen. Ich hatte einen Platz in der ersten Reihe, mit Blick direkt ins Nest.
Zunächst erkannte ich ein Ei, auf dem sie tagelang saß. Ich wunderte mich, wie sie das schaffte, da der Taubenmann nicht auftauchte, um sie zu füttern. Zumindest sah ich ihn kein einziges Mal.

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…beim Brüten

Dafür tauchte nach etwa 16 Tagen ein kleiner Schnabel unter dem Gefieder auf. Und schließlich sah ich auch das ganze Küken: Es war geschafft!

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Da isses

Als ich an den folgenden Tagen immer mal wieder aus dem Fenster sah und nachschaute, wie es dem Kleinen ging, sah ich plötzlich etwas Unheimliches. Auf den ersten Blick erschien es mir so, als würde die Taube ihr Junges verspeisen. Es steckte mit dem Kopf erschreckend tief im Schnabel der Mutter.
Natürlich war mir klar, dass die es nicht verschlucken konnte. Dazu war es zu groß. Aber ich konnte mir auch zunächst keinen Reim daraus machen, was ich da sah.
Dann recherchierte ich und war baff. Das Junge trank Milch und steckte deshalb im Hals der Mutter!

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Es war die so genannte Kropfmilch, die eine Taube aus Pflanzensäften produziert und mit dem sie ihr Junges in den ersten Lebenstagen füttert. Das heißt, sie wandelt Sämereien, Körner, Blätter und andere pflanzliche Kost, die sie normalerweise zu sich nimmt, tatsächlich in eine Art Milch um. Und das Junge lässt es sich entsprechend schmecken…

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Jeden Tag ein Stück größer…
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Und nicht nur die Mutter ist müde…

Es gingen weitere Tage ins Land und ich fieberte bei jedem Gewitter und Wind mit den beiden vorm Schlafzimmerfenster mit. Denn das Nest aus Reisig wirkte alles andere als stabil. Und ich hatte schon öfter in anderen Astgabelungen dieser Birke Taubennester gesehen, die relativ bald dem Wind zum Opfer fielen, sodass das Ei oder gar das Küken auf den Asphalt der darunter verlaufenden Straße fiel.
Doch die Mutter kümmerte sich aufopferungsvoll um ihr Kleines, sie ließ es nicht im Stich.

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Kuscheln ist angesagt

Beide „schnäbelten“ einander und die Zeit verging.

Bis… Ja, bis die Mutter plötzlich verschwunden war und auch nicht auftauchte. Das Junge lag flach im Nest und ich hatte wirklich die Befürchtung, dass einer der Falken aus der Umgebung die Mutter gefangen haben könnte. Dies hätte den Hungertod des Jungen nach sich gezogen, das ja eigentlich schon sooo groß geworden war. Retten hätte ich es nicht können, denn zwar befand sich das Nest nur etwa zwei Meter vom Fenster entfernt – doch in einer Höhe von vielleicht acht Metern.

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Allein, allein…?

Als ich nachmittags wieder von der Arbeit kam, sah ich besorgt aus dem Fenster und hoffte, dass die Mutter wieder aufgetaucht war. Doch nun war das Junge weg.

Ich suchte auf den umgebenden Ästen und stellte bald fest: Dort saß nicht nur das Junge, sondern auch die Mutter. Und die beiden schlugen mit den Flügeln. Das Kleine wurde flügge…  🙂

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Versteckt in den Ästen

In der Zwischenzeit sind die beiden in den Garten „umgezogen“ und sitzen dort auf dem Walnussbaum. Jetzt lernt das Kleine, das jetzt langsam schon eine ordentliche Größe hat, wie man feste Nahrung findet und sich vor Angriffen eines Falken schützt, dass die Katzen gefährlich werden können, genauso wie Autos…

Und wenn ich jetzt morgens aus dem Fenster sehe, sehe ich nur noch dieses Nest. Und mit ihm die Erkenntnis, dass die Tauben bei weitem nicht das Böse in sich tragen, das man ihnen andichtet. Es sind schöne, herzliche und soziale Wesen, die genauso ihren Nutzen in der Natur haben, wie alle andere Wesen.

 

 

 

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